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Titel
Die Sprache verstehen. Interdisziplinäres zwischen Germanistik, Philosophie und biblischer Exegese


Herausgeber
Lauber, Stephan
Reihe
Sprach- und Literaturwissenschaften 44
Erschienen
München 2014: Herbert Utz Verlag
Anzahl Seiten
175 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Stephan Lauber

Anstoß für den äußerlich schmalen, inhaltlich aber dicht gewobenen Sammelband war – so der Herausgeber Sascha Müller im Vorwort – das 2017 anstehende Luther-Jubiläum. Die reformatorische Besinnung auf das Wort und der davon ausgehende geistesgeschichtliche Impuls hat grundlegende Bedeutung für ganz unterschiedliche Disziplinen, denen es gemeinsam um die Frage nach dem «Verstehen der Sprache» geht. Sie ist das Thema der Beiträge, und zwar «methodisch als Schlagabtausch paradoxerweise auf der Bühne des Versagens von Sprache konzipiert» (7). Diese Problemanzeige erläutert Müller durch einen fiktiven Brief Hugo von Hofmannsthals aus dem Jahr 1902, in dem sich die vollkommene Untauglichkeit von Sprache als Instrument der objektiven Darstellung von Wirklichkeit und der interpersonalen Kommunikation angesichts der zunehmenden Auflösung abstrakten Begriffswissens ankündigt.

Solchem Sprachversagen geht Marc-Bernhard Gleißner in «Die Entdeckung des Körpers – eine sprachwissenschaftliche Odyssee?» (17−47) am Beispiel verschiedener Ansätze bei der Deutung von Körpersprache nach. Er erläutert zunächst die Tendenz mancher pädagogischer Lesarten, körpersprachliche Äußerungen defizitär nach der Kriteriologie eines statischen Bezugssystems zu interpretieren, häufig zum Zweck einer «Normierung und Disziplinierung des Körpers» (19). Demgegenüber können psychologische und soziologische Klärungen das Verständnis für die Komplexität der Konstitution körpersprach¬licher Zeichen vertiefen, etwa durch den Verweis auf biologische Bedingungen und kulturelle Voraussetzungen wie etwa gesellschaftlich vermittelte Rollenerwartungen. Über allem steht im Anschluss an J. Butler der Vorbehalt, dass Intention des Sprechers und Interpretation des Rezipienten grundsätzlich nur teilweise deckungsgleich sein können. Vor dem Hintergrund dieser kommunikativen Voraussetzungen entwirft Gleißner Grundlagen einer mit den Methoden strukturalistischer Linguistik operierenden Beschreibung von Körpersprache und demonstriert deren Anwendung bei der Deutung von (leider nicht abgedruckten) Fotos von Theateraufführungen, wobei jeweils eine «poststrukturalistische Relektüre» die «Polysemie körpersprachlicher Zeichen» (44) andeuten soll.

Der zweite Beitrag desselben Autors «Transformationen transzendenter Kommunikation zum sozial normierten Diskurs – zum Sprachbegriff in ‹Dei Verbum›» (49−99) untersucht akribisch die in der Konzilskonstitution verwendeten Verben aus dem Wortfeld «offenbaren», die semantischen Rollen der mit ihnen verbundenen syntaktischen Ergänzungen und die Pragmatik der einzelnen Aussageeinheiten. Als Ergebnis konstatiert er ein instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis, das allerdings nach gängiger Interpretation durch «Dei Verbum» gerade überwunden werden sollte. Insbesondere dürften die Belege, in denen Gott sowohl als Agens wie als affiziertes Objekt von «offenbaren» erscheint, im direkten Widerspruch zur Textintention gedeutet sein (vgl. nur etwa den Kommentar von J. Ratzinger in LThK 13 [21967] 504−528, bes. 506−508 zu DV 2), wenn ihnen der Sinn unterstellt wird: «Gott wird nicht mehr als personale Größe verstanden, sondern zum Glaubensinhalt verdinglicht» (93). Immerhin wird deutlich, dass diese erst in einer umfassenderen Analyse, die etwa auch historische Entstehungsumstände und die Positionierung im theologischen Diskurs berücksichtigt erkennbare Textintention sich nicht mit wünschenswerter Deutlichkeit auf der Ebene definitorischer Satzaussagen artikuliert.

Micha Fleiner plädiert in «Fremde Sprachen im (ge)wahren Sinne: Performativästhetische Begegnungen in und mit der Fremd¬sprache» (101−116) für eine Fremdsprachendidaktik, die sich als «künstlerische Disziplin» (113) versteht und «ästhetischkreative Handlungs- und Wahrnehmungsräume» (101) inszeniert, um emotio¬nale Zugänge zur Sprache zu schaffen und umfassend kommunikative Kompetenzen zu aktivieren. Solche Inszenierungen performativen, also wirklichkeitsstiftenden, Lernens können wie jeder lebendige Umgang mit Sprache zugleich «transformative Prozesse im Lerner» (113) anstoßen.

«Religionssoziologische (Geschmacks-) Sinnsuche – Ein Gesprächsangebot über Essen, Gott und die Welt» (117−134) legt Daniel Kofahl vor. Dazu entwickelt er eine Phänomenologie des Kulinarischen, das auch Ausdruck von Wertvorstellungen und sozialer Ordnung ist, und korreliert damit biblische Belege von Speiseregeln und Nahrungs-Metaphorik zur «Eröffnung eines basalen Analysefeldes einer mit religiöser Kommunikation operativ gekoppelten Kommunikation über Essen und Trinken» (117). Das legt interessante Querverbindungen offen, besonders wenn Schöpfung und gottmenschliche Kommunikation nach dem Modell der Mahlgemeinschaft gezeichnet und die Implikationen für das Gottesbild entfaltet werden. Allerdings wechseln die theologischen Bezüge in rascher Folge eher assoziativ zwischen ganz unterschiedlichen Ebenen und bedienen sich – wohl in gewollter Übereinstimmung mit den religiösen Anschauungen der «Hochmoderne» (129) – aus jüdisch-christlichen, aber auch etwa pantheistischen Konzepten. Manche Bemerkungen bleiben dabei rätselhaft, etwa wenn im Blick auf «die sakralen Vorgänge, die sich im Rahmen der Transsubstantiation vollziehen» von einer Verwendung von «Brot als Fleischsurrogat, Traubensaft oder Wasser als Weinersatz» (128) die Rede ist.

Sascha Müller geht in «Die weltbildende Kraft der ‹Wahrheit› – Eine kritische Rückfrage an die Sprachwissenschaft» (37−147) der transzendentalphilosophischen Frage nach, welchen Anspruch auf «Wahrheit» die durch Sprache konstruierte Welt hat und ob Konstruktion und Objektivität einander ausschließen. Dazu werden – veranschaulicht an Beispielen vor allem theologischer Wirklich¬keitskonstruktion – rationalistische und idealistische Antwortversuche abwägend einander gegenübergestellt, freilich ohne dass die Frage letztlich auflösbar wäre: Ob durch Sprache entworfene und erlebte «(Inter-)Subjektivität ein fiktives Konstrukt, das auch verschwinden kann, oder doch ein Geschenk» ist, bleibt Gegenstand drängender «gläubiger Entscheidung» (146).

«PARRHESIA. ‹Wir glauben, darum reden wir› (2 Kor 4,13)» (149−165) überschreibt Jörg Splett seine religionsphilosophisch-fundamentaltheologischen Überlegungen, was Sprechen von Gott bedeutet, wodurch es gerechtfertigt ist und in welchem Sinn es gelingen kann. 1 Kön 9,13 zufolge ereignet sich die äußerste Selbstzusage Gottes (nach der bekannten Übersetzung M. Bubers) in einer «Stimme verschwebenden Schweigens», der als angemessene Reaktion des Menschen nur wiederum Schweigen entsprechen kann. «Schweigen indes bedeutet anderes als Verstummen; es muss (er)klären, was es (v)erschweigt» (152). Das geschieht in einem für das Christentum als Bekenntnis-Religion Objektivität beanspruchenden Sprechen von Gott und mündet ins Sprechen zu Gott, das «nur möglich [ist] als Wort von ihm her» (159), durch das solche Anrede sich ermächtigt weiß – und zwar im Hören auf den durch Schöpfung und Offenbarung ergehenden «Zuspruch der Wirklichkeit, auf den mein Wort erwidert» (160). Diese «Dialogizität» lässt «unser fehlbares Reden […] in einem strengen und genauen Sinn Gottes-Wort» (162) sein.

Abschließend reflektiert Sascha Müller über «Exegese und Sprachverstehen – Die These: Die Willensstärke formiert das Heer der Metaphern» (169−174). Am Beispiel der Leben-Jesu-Forschung führt er aus, wie der Versuch, den Sinn biblischer Sprache auf der semantischen Oberfläche abzulesen und zu einem überzeitlich gültigen Begriff zu abstrahieren, zum Scheitern verurteilt ist. Erfassbar wird Sinn erst im Nachvollzug der «intramentalen Einstellung, der Willensstärke, auch theologisch Glaube genannt» (172) der biblischen Sprecher, was für das Sprachverstehen die Bereitschaft zu einem Umgestaltungsprozess im «Gesamthorizont der menschlichen Freiheit» voraussetzt: «Das Heer der Metaphern organisiert das Subjekt neu in seinem Verständnis des Wortes» (173).

Ohne jede Frage liegen hier durchweg anspruchsvolle und originelle Reflexionen vor, deren interdisziplinärer Horizont bereichernde Anstöße und Einsichten bietet. Zu bedauern ist aber, dass die Beiträge sich betont (und mitunter geradezu schwelgerisch) innerhalb der Sprachspiel(erei)e(n) ihrer jeweiligen Fachdiskurse bewegen, was für den Nicht-Eingeweihten den Nachvollzug nicht unerheblich erschwert. So wird die Sammlung streckenweise selbst zum beredten Anschauungsgegenstand der Schwierigkeit, Sprache zu verstehen.

Zitierweise:
Stephan Lauber: Rezension zu: Sascha Müller (Hg.), Die Sprache verstehen. Interdisziplinäres zwischen Germanistik, Philosophie und biblischer Exegese (= Sprach- und Literaturwissenschaften 44), München, Herbert Utz Verlag, 2014. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions und Kulturgeschichte, Vol. 109, 2015, S. 475-477.

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